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In der Räucherkammer aufgewachsen und die Weltenänderungen

NevereverpuffNevereverpuff hat uns nach 700 Tagen diese tolle Geschichte geschickt.
Nevereverpuff (w, 700 Tage rauchfrei): Es gab das Herrenzimmer, zentral in der Wohnung gelegen, dort wurde geraucht. Der Vater rauchte, der Onkel rauchte, unerreichter Spitzenreiter war der Opa mit 80 Zigaretten am Tag. Gab es zur Zeit des HB-Männchens, der Camelboots und den Marlboro Westernhelden, Männer, die nicht rauchten? Wenn ich Männer aus meiner Kindheit an meinem geistigen Auge vorbeiflanieren lasse, sind an allen Fingern Zigaretten in unterschiedlichen Formen und Marken angewachsen.

Die Räucherkammer

Die intensivste Räucherkammer stellte das Auto im Winter dar. Weil es zu kalt war, blieben die Fenster geschlossen. Und zur guten Erziehung gehörte nun mal auch, nicht zu meckern, wenn die Augen vor Qualm brannten. Mich wundert es heute noch, dass wir nicht alle den Teint der gelben nikotingefärbten Gardinen der Wohnungen angenommen hatten. Diese Gardinen wurden in kurzen Abständen nicht nur sauber sondern rein gewaschen, wie Klementine von Ariel versprach. Und vielleicht wurde für Jugendliche durch die rauchgeschwängerte Luft Clearasil, weil reine Haut so wichtig ist - in Englischer Werbung hieß es: clearasil the porencleaner - zum Paralleluniversum. Keineswegs möchte ich meine Eltern anprangern, mitnichten, wir waren eine normale Durchschnittsfamilie, es war überall so. Manche Kinder hatten sogar zwei rauchende Elternteile.

Die erste Zigarette – Einübung ins Rauchen

Wochentags nach den Hausaufgaben spielte ich oft mit einer Gruppe Mädchen Indianer und Cowboy. Nur mit Mädchen deshalb, weil Jungs uns gerne an Marterpfähle banden, um uns später wieder zu befreien. Diese Rolle machte jedoch keinerlei Spaß. Wir waren die wahren Helden aus Winnetou, Bonanza und rauchende Colts, schwache weiße Frauen und Squaws gab es bei uns nicht.
Eine weibliche Form, die Heldin, kannten wir nicht, denn „Lara Croft“ und „Lola rennt“ kamen erst sehr viel später in die Kinos. Und natürlich rauchten wir Friedenspfeifen. Sie bestanden aus Schilfrohren, die wir aus Gartenzäunen brachen. Auch Holunder und eine Art europäische Liane hatten innenseitig ein Loch, sodass beim intensiven Ziehen durchaus eine Glut entstand. Wir durchforsteten den Wald stets nach neuen unbekannten Glimmstängeln.
Beim Rauchen wurden wir erwischt, obwohl wir unsere Friedenspfeife hinter der mit Pflanzen verzierten Mülltonneneinhausung aus Kiesbetonplatten am Nachmittag rauchten. Es war ein fremder Mann, der uns entdeckte. Er sagte lächelnd: „wenn ihr schon rauchen müsst, dann raucht richtige Zigaretten, die sind gesünder“. Er schenkte uns zwei Stück, die wir nur zu Friedensabkommen rauchten sollten. Nun, wir schlossen oft Friede. Und wir glaubten dem Mann. Geld hatten wir nicht, so stibitzen wir den Vätern ab und zu Zigaretten. Je mehr Zigaretten wir ergattert hatten, desto größer wuchsen wir in den Augen der anderen zu Superhelden mit unerschütterlichem Mut. Je mehr Zigaretten wir besorgt hatten, umso höher stiegen wir in der Karriereleiter, im Wunschfalle zum Schamanen oder Häuptling auf. Bandenchef war ebenso beliebt und ein sehr gefragter Rang.

Verbündete

Sicherlich wollten die meisten Älteren nicht, dass wir Kinder und Jugendliche rauchten, doch gab es nirgends eine rauchfreie Zone, sodass immer alles nach Qualm roch. Wir mussten lediglich Schachteln und Zigaretten verstecken. Mein Verbündeter, der Onkel, schenkte mir als ich 14 Jahre alt wurde, ein beigefarbenes Lederetui, das ich zur Tarnung nutzen konnte. Auch versteckte er Zigaretten in seinem Keller für mich. Manchmal rauchten wir zu zweit im Lehmbodenkeller, wenn ich für die Eltern Getränke oder Kartoffeln holen musste. Mich wundert es noch heute, wie leicht das Versteckspiel war.
Im Schulhof durfte nicht geraucht werden. Erst ab 16 Jahren konnte man das Schulgelände in den Pausen verlassen. Auf dem Hof zur Straße hin gab es eine weiße Linie, die Grenzmarkierung. Außerhalb der Linie standen die älteren Schüler im öffentlichen Bereich und rauchten. Innerhalb der Linie reihten sich die jüngeren auf. Kam ein Aufsichtslehrer zur Kontrolle der Vorschriften vorbei, hatten die älteren in Sekundenschnelle eine zweite Zigarette in der Hand. Lehrer wie Schüler grinsten oft bei diesem kuriosen Spiel, rauchten die Lehrer doch fast alle, und zwar selbst im Lehrerzimmer, indem, so wie in der ganzen Schule, Rauchen verboten war.

Die ganz normale Sucht

Rauchen war normal, schon immer. Dass der Onkel mit Mitte 40 an Speiseröhrenkrebs, der Opa mit 74 an Lungenkrebs und der Vater mit 73 Jahren an Blasenkrebs starb, war gottgegeben. Es war normal, den Tag mit drei Zigaretten zu beginnen und ebenso zu beenden. Nie hätte ich es mir verbieten lassen in der Wohnung zu rauchen, alles normal. Ich war stolz darauf, dass ich sehr viel mehr Kondition hatte, als meine nicht rauchenden Freundinnen. Ja, ich stellte mit meiner Energie auch manche Männer in den Schatten.
Also machte mir das Rauchen nichts aus, mir doch nicht, genauso wie dem Helmut Schmidt, der immer rauchte und wahrlich ein stolzes Alter erreichte. Ich kannte das Leben schließlich nicht anders. Aufkommende Gedanken: man sollte, man könnte ja mal versuchen und Rauchen ist doch so schädlich, wurden spätestens nach einer Stunde im Keim erstickt – klar, durch eine Zigarette. Ich sorgte immer vor, der Stoff war immer im Haus und ging nie aus.
Krankheiten bestimmen mein Leben. Natürlich, so interpretierte mein Suchtmonsterich, haben sie nichts mit Zigaretten zu tun. Aber auch gar gar nie nichts. Aufgrund meiner Ausbildung und meiner Neugier kenne ich mich mit dem menschlichen Körper recht gut aus. Auch dieser Einblick bewirkte keinerlei Umdenken. Früher rauchten schließlich auch die Ärzte im OP-Saal. Rauchen ist antiseptisch, sagten sie, wie schön.

Der Umweg und die erste Weltveränderung

Immer deutlicher kratzte im Hinterkopf plagender Zweifel an der Selbstlüge. Aber der Suchtmonsterich wiederholte immer wieder: Das Rauchen, nein das Rauchen schadet dir nichts, dir nicht. Das steckst du weg.
Warum, wieso, weshalb. Ich forschte in der Familiengeschichte. Ich recherchierte in der Genetik, der Biologie, Physik, Chemie und nicht zu vergessen in der Psychologie. Stundenlang saß ich am PC, bis das Rückgrat Salto schlug und sich wehrte. Gezielt suchte ich eine Antwort auf die Frage, warum ein Mensch Süchte entwickelt und ein anderer nicht.
Als Gegenbeispiel zu mir hatte ich meinen Mann vor Augen, ein wirklich suchtloser Gelegenheitsraucher. So etwas gibt es tatsächlich, bestätigte er mir. Seit meinem Rauchstop rührt er auch keine Zigarette mehr an, klagte aber nie über deutliche Entzugserscheinungen. Nach 8 Wochen, bemerkte er auf einer Party: „jetzt vermisse ich das Rauchen nicht mehr.“ Da blitzte doch ein klein wenig Sucht auf, nur in einer ganz anderen Weise, wie ich sie kenne. Gleich sind sie nicht, die Süchte, jede hat ihre ganz eigene Präsenz.
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